Körper- und sinnesbeeinträchtigte Menschen kämpfen seit Jahren für ihr Recht auf Bildung. Bildung innerhalb der Gesellschaft. Bildung, wie sie jede andere Person auch erlebt. Dafür sollen integrative Schulkonzepte zum Einsatz kommen.
Doch was unterscheidet eine integrative Schule für alle von anderen Schulen? Immerhin gilt es, die verschiedensten Bedürfnisse der Schüler*innen mithilfe geeigneter Unterrichts- und Lernmaterialien zu erfüllen. Das Paradebeispiel einer integrativen Lehranstalt stellt das Wiener Schulzentrum Ungargasse dar. SUMO hat dazu ein paar Fragen an die dort unterrichtende Lehrerin Lisa Rumpl sowie an die ehemalige Schülerin Genniesel Boongaling gestellt.
Die Forderung nach mehr Inklusion von Schüler*innen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, ist seit Jahrzehnten ein stark diskutiertes Thema in der österreichischen Bildungspolitik. Bis vor ein paar Jahrzehnten galten Sonderschulen noch als die einzige Möglichkeit für körperlich und geistig beeinträchtigte Kinder und Jugendliche, um eine Schulbildung sowie Vorbereitung auf die Arbeitswelt zu erhalten. Jedoch enden Sonderschulen in Österreich nach der neunten Schulstufe, lediglich mit der Zustimmung der entsprechenden Behörden und der Einwilligung des Schulhalters ist der Sonderschulbesuch bis zum zwölften Unterrichtsjahr möglich. Der bürokratische Aufwand, um so etwas grundlegendes wie Wissen zu erlangen, ist demnach relativ hoch. Nicht zu vergessen, dass den Schüler*innen zunehmend die Chance genommen wird, am alltäglichen Schulleben bzw. an der Gesellschaft teilzunehmen.
Auch die Verantwortlichen des österreichischen Bildungssystems haben mittlerweile vor über 30 Jahren eingesehen, dass dies keine dauerhafte Lösung sein kann. Die Alternative: Inklusion. Das erste integrative Schulkonzept in Österreich wurde bereits in den 80er Jahren entwickelt. Das Projekt startete mit lediglich einer einzigen Klasse im burgenländischen Oberwart. Dennoch stellte dieser Schritt einen Meilenstein für die Integration beeinträchtigter Schüler*innen dar. Eine Reihe weiterer integrativer Konzepte folgte. Laut zahlreichen Studien der letzten Jahre, profitieren alle Beteiligten gleichermaßen von dieser Art der Inklusion. Beeinträchtigte Schüler*innen erleben soziale Teilhabe und erzielen teilweise bessere Lernergebnisse als in reinen Sonderschulen und nicht beeinträchtigte Schüler*innen lernen Toleranz, entwickeln neue Werte und leben mehr Diversität. So hat eine Studie des Bayrischen Lehr- und Lehrerinnenverbands 2017 ergeben, dass auch über die Hälfte befragter Lehrpersonen eine gemeinsame Unterrichtung von allen Kindern mit und ohne Beeinträchtigung sinnvoll findet. Die Hauptargumente dafür waren die Förderung von Toleranz und sozialer Kompetenzen sowie die Schaffung eines gemeinsamen bzw. voneinander Lernens.
Doch wie sieht die Situation heute aus? Nun ja, die Antwort lautet: eher durchwachsen. Integrative Schulkonzepte, bei denen sowohl beeinträchtigte als auch nicht beeinträchtigte Kinder und Jugendliche in eine Klasse gehen, werden momentan fast ausschließlich in Regelschulen wie Volks- und Mittelschulen oder Gymnasien umgesetzt. Jedoch gibt es dieses Angebot beispielsweise für berufsbildende höhere Schulen, in denen Schüler*innen neben einer allgemeinen Ausbildung auch berufliches Fachwissen vermittelt wird, kaum.
Wien geht mit gutem Beispiel voran
Dass es auch anders geht, zeigt das Schulzentrum Ungargasse (SZU) in Wien Landstraße, das neben einer dreijährigen Fach- und Handelsschule auch eine Handelsakademie und eine höhere technische Lehranstalt umfasst, die mit Matura abschließen. Lisa Rumpl, eine der dort angestellten Lehrerinnen, unterrichtet seit 2014 am SZU und erzählt im SUMO Interview von den Voraussetzungen, um in solch einer Institution arbeiten zu dürfen. Neben einem Neulehrer*innen-Seminar, bei dem man über die verschiedensten Beeinträchtigungen und den Umgang mit diesen belehrt wird, gibt es auch eine jährliche Konferenz, bei der die einzelnen Schüler*innen der jeweiligen Klassen und deren individuelle Bedürfnisse besprochen werden. Eine Zusatzausbildung ist laut Frau Rumpl jedoch nicht notwendig. Die 32 Jahre junge Deutsch- und Englischlehrerin gibt zudem Einblicke in den integrativ gelebten Alltag am SZU: „Ich glaube, dass die Schüler und Schülerinnen ohne Beeinträchtigung das gar nicht so mitkriegen. Ich habe nicht das Gefühl, dass das etwas ist, das sie an die große Glocke hängen. Sondern es ist einfach so, was ich ziemlich gut finde.“ Neben der gut funktionierenden Einbeziehung der sinnes- und körperbeeinträchtigten Schüler*innen in der Ungargasse, werden auch Lerninhalte mithilfe individueller Unterstützungen sowie spezieller Hilfsmaterialien adäquat vermittelt.
Hilfsmittel für beeinträchtigte Schüler*innen
Das SZU bietet den körperlich beeinträchtigten Jugendlichen außerhalb des Unterrichts einige Möglichkeiten für deren gesundheitliche Bedürfnisse. Frau Rumpl nennt neben der Ergo- und Physiotherapie zudem das Angebot für eine logopädische Unterstützung. Auch Hilfsmittel werden während des Unterrichts bei Bedarf für die sinnesbeeinträchtigten Jugendlichen verwendet. „Auf der einen Seite kriegen wir, die Lehrenden, Schulungen und auf der anderen Seite stellen wir für Schüler mit Sehschwäche Lesegeräte zur Verfügung“, so die junge Lehrkraft. Dabei spricht sie unter anderem von einer Tafelkamera, welche es seh-beeinträchtigten Schüler*innen ermöglicht, das Tafelbild auf einem eigenen Bildschirm mehrfach vergrößert anzuzeigen. Die Jugendlichen haben außerdem die Möglichkeit, eine klassische Lupe oder ein digitales Lesegerät zu benutzen. Letzteres projiziert den geschriebenen Text, beispielsweise aus Lehrbüchern, in großen Buchstaben auf einen Computermonitor. Diese technologischen Helferlein befinden sich immer an einem festgelegten Platz, der sich meist vorne im Klassenzimmer befindet, um die freie Sicht auf die Tafel gewährleisten zu können. Lisa Rumpl erzählt auch von den blinden Schüler*innen, die seit einiger Zeit nun ebenfalls das SZU besuchen können. Aus diesem Grund arbeitet die Lehranstalt eng mit dem Bundesblindeninstitut zusammen. „Die Bücher sind alle digitalisiert, das heißt die Schüler arbeiten alle mit dem Computer mit der Braillezeile“, berichtet die 32-Jährige. Es gibt außerdem die Möglichkeit, mathematische Funktionen und Graphen durch das Blindeninstitut so drucken zu lassen, dass diese für die blinden bzw. seh-beeinträchtigten Jugendlichen ertastbar sind.
„Ich hatte nicht wirklich eine Wahl“
Nicht nur Lernmaterialien und physiotherapeutische Unterstützungen werden im Schulzentrum Ungargasse geboten, auch die kaufmännische Ausbildung ist den körperlich- und sinnesbeeinträchtigten Jugendlichen sicher. Die ehemalige Schülerin Genniesel Boongaling, die 2018 am SZU maturiert hat, spricht von einer soliden Grundlage für ihr aktuelles Studium. „Ich habe nach der Handelsschule die Handelsakademie gemacht. Ich denke schon, dass ich ein gutes Grundwissen für die WU hatte.“, so die junge Rollstuhlfahrerin. Als Grund für die anfängliche Ausbildung in der Handelsschule gibt Genniesel an, dass ihre Noten in der Unterstufenzeit aufgrund gesundheitlicher Probleme gelitten hatten. Jedoch besserte sich ihr Gesundheitszustand, wodurch ihre Lehrer*innen ihr volles Potenzial erkannten. „Es gab dann die Möglichkeit, dass ich einen Aufbaulehrgang, entweder im 10. oder im 21. Bezirk, mit einer persönlichen Assistenz, die mich immer begleitet hätte, mache. Der hätte dann drei Jahre gedauert“, erzählt die 25-Jährige. Da sie sich im SZU aber wohler fühlte, entschied sich die damalige Schülerin für die anschließende Ausbildung an der Handelsakademie, wobei sie die zwei Jahre mehr Schulzeit in Kauf nahm.
Genniesel studiert nun im 8. Semester Wirtschaft- und Sozialwissenschaften im Studienzweig BWL an der Wirtschaftsuniversität Wien. Auf die Frage, ob sie im Nachhinein froh über die Entscheidung sei, ihre Bildung in der Ungargasse genossen zu haben, antwortet die 25-Jährige: „Ich hatte nicht wirklich eine Wahl. Da es die einzige behindertengerechte Schule war.“ Genniesel spricht dabei das Problem der kaum vorhandenen berufsbildenden höheren Lehranstalten an, welche eben auch für körperlich eingeschränkte Personen zugänglich sind. „Das war auch das Problem von mehreren Schülern in der Ungargasse, die z.B. in der Handelsschule waren. Normalerweise gibt es einen Aufbaulehrgang nach der HAS, der ist aber nicht integrativ. Deswegen kenne ich auch mehrere die danach ebenfalls noch die HAK gemacht haben.“, erzählt die Absolventin. Genniesel sagt auch, dass ihr das SZU von ihren persönlichen Bedürfnissen her schon sehr gut helfen konnte. Beispielsweise erhielt sie Unterstützung in Form von Prüfungszeitverlängerungen, Physiotherapien und Fahrtendiensten. Auch bei ihrem derzeitigen Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien erhält die junge Rollstuhlfahrerin durch das dort etablierte Unterstützungsprogramm BeAble Hilfestellungen in Form von Änderungen der Prüfungszeiten. Das BeAble-Team ist zudem für die Organisation von Schreibassistenzen bei Prüfungen, für die Unterstützung bei der Anmeldung zu prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen sowie als Beratung- und Orientierungshilfe zuständig.
Bedarf nach mehr Inklusion
Beeinträchtigte Kinder und Jugendliche werden zwar zunehmend an Regelschulen integriert, jedoch kommen berufsbildende höhere Lehranstalten, welche einen vermeintlich einfacheren Berufseinstieg ermöglichen würden, nach wie vor zu kurz. Dabei profitieren sowohl beeinträchtigte als auch nicht beeinträchtigte Schüler*innen von den integrativen Konzepten. Sei das durch bessere schulische Leistungen oder durch das Erlernen von Akzeptanz gegenüber seinen Mitmenschen. Die Lehrerin Lisa Rumpl erwähnt den Vorteil zur Allgemeinheit zu gehören. „Im besten Fall ist es für die beeinträchtigten Schüler auch eine Chance sich mehr zu fördern und zu fordern. Weil man sie eben nicht nur auf ihre Beeinträchtigung reduziert, sondern einfach als Schüler sieht.“, so Frau Rumpl. Auch Genniesel spricht von den Vorteilen, die ihr der Besuch an der Ungargasse gebracht hat. „Es ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, dass Schüler mit Beeinträchtigung mit anderen, ohne Beeinträchtigung zusammen in eine Schule gehen können. Es ist eine Möglichkeit, um auch Teil der Gesellschaft zu sein“, so die junge Studentin.
Von Verena Scharnagl
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