Im Leben gibt es Höhen und Tiefen. Im Laufe dieser Reportage wurde ich mit vielen kuriosen Erlebnissen konfrontiert. Die Ursache für diese Umstände ist das Thema dieses Artikels: True Crime Podcasts.
Die erste Frage, die ich klären wollte: Wie beliebt sind Podcasts? Es wird immer wieder die Hypothese in den Raum gestellt, dass die Jugend keine Aufmerksamkeitsspanne mehr und lieber Informationshäppchen als tiefgehende Berichte hätte. Podcasts sind die Antithese zu dieser Behauptung: oftmals stundenlange Monologe oder Gespräche zu Themen, die kaum ein Radiosender relevant finden würde. Vom detailierten Geschichtsvortrag bis zur lockeren Datingshow hat jede Nische ein Zuhause und eine treue Hörerschaft auf Podcastplattformen finden können.
Nutzung und Formate von Podcasts
Von Saruul Krause Jentsch, Co-Initiatorin des Berliner Podcast-Labels „Auf die Ohren“, erhoffte ich mir eine Erklärung zu der Koexistenz dieser beiden divergierenden Thesen. Laut ihr gebe es zumindest vier Argumente, die dies erklären können. An vorderster Front sei die Intimität, die Podcasts innewohne. Mehr als 70% der HörerInnen benutzen Kopfhörer, was, insbesondere im Vergleich zum Fernsehen oder Autoradios, für ein anderes Verhältnis zum Inhalt sorge. Die Ursache dafür ist die besondere Nutzungssituation: Der Großteil höre Podcasts nicht zuhause auf der Couch, sondern unterwegs. Krause-Jentsch sieht darin auch den Grund, warum gerade ein zeitlanges Format gewünscht sei. Wenn man läuft oder Fahrrad fährt, könne man nicht dauernd das nächste Video einschalten, das dann wieder nur drei Minuten dauert. Man benötige ein Format, welches das Pendeln entspannter und nicht anstrengender mache. Ein weiterer Grund ist die Fantasie, denn im Gegensatz zu anderen Medien solle diese stärker angeregt werden. Die Podcast-Rezeption sei laut Krause-Jentsch näher beim Buch als beim Fernsehen, da uns nicht vorgekaut werde, was man sich vorstellen soll. Schlussendlich sieht sie auch einen Überdruss an dem viralen Shortform Content, der den Großteil des Internet darstelle. Podcasts mit ihren oft weitläufigen und detaillierten Ausführungen stellen dafür das optimale Pendant dar.
Damit war für mich zumindestens geklärt, warum Menschen Podcasts hören. Die Frage, warum sie gerade Mord– und Kriminal-Podcasts hören, war allerdings noch offen und größer denn je, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich mir beim Laufen, Fahrradfahren oder Pendeln anhöre, wie jemand abgestochen oder erdrosselt wird. Doch wer könnte mir diese Frage beantworten? Am besten natürlich True Crime Podcaster. In Deutschland gibt es von diesen allerdings noch nicht so viele wie beispielsweise in den USA, wo dieser Trend durch „Serial“ vom „Chicago Public Radio“ in die breite Öffentlichkeit rückte. Im deutschsprachigen Raum wurde es dann u.a. von „ZEIT“ mit ihrem Podcast „Verbrechen“ aufgenommen. Ebenso hat das deutsche Content Network „funk“ von ARD und ZDF vor einigen Monaten ein Format übernommen: „Mordlust“, von Paulina Krasa und Laura Wohlers, wird seit letztem Jahr von den beiden produziert und über Streaming-Plattformen wie „Spotify“ verbreitet. Mit einer Hälfte des Teams, Paulina Krasa, konnte ich dann zumindest einige meiner Fragen klären. Davor wollte ich mich allerdings in die Welt der Fans hineinversetzen. Zwei Wochen lang habe ich jede freie Minute genutzt, um mich von der realen Welt abzuschotten und in die Welt der True Crime Podcasts abzutauchen.
Getting the real motive
Dabei konnte ich gleich mehrere Phänomene beobachten. Erstens hatte ich das dringende Bedürfnis, jedes Gespräch zu kapern, um über komische und verstörende Mordfälle zu reden. Aus einer Unterhaltung über Wochenendpläne wurde ein Vortrag über die schlimmsten Weihnachtsmorde. Aus einer Diskussion über Artikel 13 (EU-Uploadfilter) wurde ein Segment zu deutschen Amokläufen. Dies geschah aber weniger aus Freude, sondern mehr aus einem Bedürfnis, diese Geschichten zu teilen und zu sehen, wie andere Menschen darauf reagieren würden und ob sie die Erzählungen gleichermaßen verstörend fanden wie ich selbst. Gleichzeitig hatte ich auch das Gefühl, dass die im Podcast erzählten Geschichten an Grausamkeit und Ekelfaktor verloren. Dadurch wurde ich dann mit der Frage konfrontiert, ob die Geschichten wirklich harmloser wurden oder ich einfach desensibilisiert. Die Kommunikationswissenschaft begründet die Desensibilisierung in der Arousal-Theorie. Bis zur Veröffentlichung dieses Artikels konnte ich mir diese Frage nicht beantworten.
Nach diesem Selbstversuch war es dann Zeit, Paulina Krasa zu interviewen und dabei stellte sich heraus, dass einige Fragen, die ich mir stellte sie sich ebenso schon gestellt hat. Unter anderem, wieso ihre Fans den Podcast hören. Deswegen haben sie bereits eine wiewohl nicht-repräsentative Umfrage unter ihren ZuhörerInnen gemacht, um ebendies herauszufinden. Dabei gab es unterschiedliche Begründungen, die in mehrere Kategorien unterteilt werden konnten. Ebenjene Begründungen finden sich auch in mehreren Studien wieder. Ein großer Faktor ist das Bedürfnis nach Verständnis. Eine Zuhörerin schrieb, sie wolle „versuchen […] zu verstehen warum ein Mensch eine Tat begeht, bzw. was ihn dazu getrieben hat“. Dadurch soll aus einer für den Durchschnittsmenschen unverständlichen Tat etwas werden, das man einordnen kann. Wie eine andere Zuhörerin schrieb, werde es so „verständlich oder zumindest nachvollziehbar“. Manche gaben auch zu, dass Sensationslust – in der Kommunikationswissenschaft lautet das theoretische Konstrukt „Sensation Seeking“ – einen Einfluss auf ihr Interesse habe. Es sei fesselnd zu sehen, wozu Menschen fähig und wie sie dazu geworden sind. Auch der Gruselfaktor wurde mehrfach erwähnt. Bei beiden handelt es sich um ein Interesse an dem Unbekannten. Etwas, das einem/r komplett fremd ist und nicht dem Alltag entspricht und gerade deswegen ein verdrehtes Interesse weckt.
Mordinteresse ist weiblich…
Für mich der interessanteste Grund war allerdings die Vorbereitung. Dazu fand ich bei meiner Recherche auch die Studie „Captured by True Crime: Why Are Women Drawn to Tales of Rape, Murder, and Serial Killers?“, die mir auch zu einem anderen versteckten Wissen verhalf. Der Großteil der True Crime Fans ist weiblich. Gleichzeitig beantwortete sie auch gleich die Frage, warum das so ist. Noch dazu bestätigte sie auch die Ansichten der befragten ZuhörerInnen. Amanda M. Vicary und Chris R. Fraley von der University of Illinois zeigten in ihrer Studie einen Unterschied auf zwischen Männern und Frauen. Während weibliche Leserinnen eher zu Lektüre griffen, die ein weibliches Opfer hat, Tipps enthielt oder eine Erklärung zum Motiv des Mörders andeutet, war es bei Männern zwar manchmal auch ein Faktor, aber weitaus geringerer als bei Frauen. In der Studie wird besonders beim Unterschied durch das Geschlecht der Protagonistin darauf hingewiesen, dass dies dadurch bedingt ist, dass der gleichgeschlechtliche Protagonist ansprechender ist, da er oder sie einem selbst ähnlicher ist.
„Emotional Rescue“
Das ist auch ein Thema, das Paulina Krasa ansprach und ich als besonders interessant empfand: nämlich, was uns am meisten emotional trifft. Die Anekdote mit der tränennahen Autofahrt erklärt sie mit dem Kontext, den ich zu dieser Situation habe. Dieser Kontext gibt mir eine Nähe zu dem Geschehen, die ich zu einem Hamburger Prostituiertennmörder nie haben könnte. Ein anderer Weg diese Nähe zu schaffen, die Podcasts bzw. auditiven Medien im Vergleich zu Texten eigen ist, sind originale Ton-Aufnahmen. Bis heute haben sich Telefonatmitschnitte des Podcasts in mein Gehirn gebrannt. Geschichten von verzweifelten Müttern setzen einem zwar allein wegen dem bekannten Bezug zu, der Mitschnitt eines Notrufs von einer weinenden Mutter deren Tochter gerade angeschossen wurde, trifft einen aber auf einem Level, den kein Zeitungsartikel je erreichen könnte. Denn nicht nur haben wir den Bezugspunkt, sondern wir hören auch noch die Verzweiflung in ihrer Stimme und haben noch dazu das grauenvolle Wissen, dass das was wir in diesem Moment hören, nicht geschauspielert ist. Dass wir nicht zu einem Happy End vorspulen können. Dass wir gerade hören, wie eine Mutter mit dem Gedanken kämpfen muss, ihr eigenes Kind zu begraben.
von Alexander Weller